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Junge Frau liegt mit dem Kopf auf ihren Unterlagen auf einem Tisch

Chancengleichheit in der Bildung.

Reflexion über Lehren und Lernen zu Zeiten von Corona und Homeschooling.

Die Institution Schule anders denken, wesentlich verändern, neu aufstellen - was vor zweieinhalb Jahren nach einem ebenso gewagten wie langwierigen Prozess klang, wurde durch die Corona-Pandemie quasi über Nacht Realität. Die schnelle Umsetzung von Homeschooling und Wechselunterricht hat Schulleitungen, Lehrpersonal, Jugendliche und deren Eltern - also die gesamte Schulfamilie - vor große Herausforderungen gestellt.

Zeit verlieren, um Zeit zu gewinnen

Bildung ist ein lebenslanger Prozess und deutlich mehr als die Anhäufung von Wissen. Es ist ein Geschehen sozialer Interaktion, bei dem wir Erfahrungen sammeln - auf sozialer, sachlicher und geistiger Ebene. Doch wie steht es um die schulische Bildung in pandemischen Zeiten? Wie haben Homeschooling und Wechselunterricht das Lehren und Lernen in den vergangenen beiden Jahren beeinflusst? Welche Entwicklungen sind zukunftsfähig und wo muss gegengesteuert werden? Und ist das bayerische Schulsystem so starr wie sein Ruf und damit eher Chancenverhinderer als Chancengeber? Um diese und viele weitere Fragen zu klären, verabreden wir uns mit Dr. Christian Büttner, dem Leiter des IPSN - Instituts für Pädagogik und Schulpsychologie der Stadt Nürnberg.

Gleich zu Beginn berichtet Dr. Christian Büttner, dass die Stadt Nürnberg dank ihrer 2017 verabschiedeten IT-Strategie bei der Umstellung auf Distanzunterricht im Vorteil gewesen sei. Fragen, die sich andere Kommunen in Sachen Infrastruktur, Ausstattung und Anwendungsschulung erst stellen mussten, waren bereits beantwortet. Die Unabhängigkeit der Nürnberger Schulen von Mebis, dem gerade zu Pandemiebeginn durch technische Startschwierigkeiten in Erscheinung tretenden Internetportal des bayerischen Kultusministeriums, erwies sich als Glücksfall. "Da hatten wir einen gewissen Vorsprung, weil wir einfach schon einen Schritt weiter waren und relativ schnell reagieren konnten. Und wir haben die Lehrkräfte direkt mitgenommen. Mitte März kam die Schulschließung und wir haben bis Mai fast 3.000 Pädagogen zu unserem Videokonferenzsystem und digitalem Unterricht fortgebildet", erklärt der Bildungsexperte.

Zitate

"Corona hat das stabile System Schule nicht nur verändert, sondern komplett in Frage gestellt."

Dr. Christian Büttner, Leiter Institut für Pädagogik und Schulpsychologie der Stadt Nürnberg

Trotz des Schnellstarts und der zügigen Bereitstellung von Hardware für Schülerinnen und Schüler aus einkommensschwächeren Haushalten, zeichneten sich in Nürnberg, wie im Rest Deutschlands, nach kurzer Zeit Verunsicherung und zum Teil auch Überforderung ab. Eltern mussten plötzlich in den eigenen vier Wänden den Spagat zwischen Beruf und Kinderbetreuung schaffen, die Rolle von Aushilfslehrkräften übernehmen und mit überlasteten lokalen WLAN-Netzen zurechtkommen. Pädagogen standen vor der Herausforderung, mit einer nicht immer optimalen Ausstattung ansprechenden digitalen Unterricht zu gestalten, Noten zu erheben und den Bezug zu den Jugendlichen auch in Zeiten eingeschränkter sozialer Interaktion nicht zu verlieren. "Corona hat das stabile System Schule nicht nur verändert, sondern komplett infrage gestellt. Das war schon eine Riesenherausforderung, sowohl für Lehrkräfte, als auch für die Schülerschaft und deren Eltern. Die digitalen Instrumente haben den Prozess erträglicher gemacht, aber sie haben den Ort nicht ersetzt. Jugendliche aus einem relativ normalen, fördernden Elternhaus gehen vor allem zur Schule, um dort zu lernen und sozial zu agieren. Aber es gibt Kinder, für die bedeutet Schule noch viel mehr: warmes Essen, Struktur, Wärme, Kommunikation und Sicherheit. weil ihre Eltern sich vielleicht nicht ganz so um solche Dinge kümmern", gibt Dr. Christian Büttner zu bedenken.

Chancengleichheit alleine reicht nicht aus

Neben dem Verlust des Sozialraums Schule haben Kinder und Jugendliche aus weniger gut situierten Haushalten mit einem weiteren Nachteil zu kämpfen: Sie haben aufgrund räumlicher Verhältnisse nur wenig Möglichkeiten, ungestört digital zu arbeiten. Erschwerend kommt bei einem Teil der Kinder hinzu, dass ihnen die Eltern nicht oder nur bedingt beim Nachbereiten des Unterrichtsstoffs und den Hausaufgaben helfen können oder wollen. Die sich bereits vor Corona abzeichnende Schere zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Familien scheint weiter aufzugehen. Kann man vor diesem Hintergrund noch von einem fairen System und von Chancengleichheit sprechen? Dr. Christian Büttner kommt schnell zu einer Antwort: "Bei klassischen Schulnoten von eins bis sechs würde ich sagen, ich gebe mit Blick auf die Chancengleichheit eine Zwei. Ich bin ein Optimist. Deswegen kann es immer besser werden. In einer Zeugnisbegründung würde es heißen: Das deutsche Bildungssystem ist gerecht. Es sollte aber an der Transparenz der Möglichkeit noch arbeiten."

Zitate

"Entscheidend ist, dass man die Lernenden unterstützt auf dem Weg."

Dr. Christian Büttner, Leiter Institut für Pädagogik und Schulpsychologie der Stadt Nürnberg

Zu den wichtigsten Instrumenten, Chancengleichheit im Sinne einer gleichwertigen Teilhabe sicherzustellen, zählt das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung. Es ermöglicht Kindern aus einkommensschwächeren Familien Leistungen wie Nachhilfe und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, etwa über die Förderung oder Bezuschussung von Klassenfahrten und Vereinsmitgliedschaften. Nürnberg gehört zu den Städten, in denen das zur Verfügung stehende Budget sehr gut ausgeschöpft wird. Der sogenannte Nürnberg-Pass kann beim Amt für Existenzsicherung und soziale Integration beantragt werden und wird von vielen Anbietern in den Bereichen Bildung, Kultur, Sport und Freizeit akzeptiert. An einem Beispiel verdeutlicht Dr. Christian Büttner jedoch, dass Chancengleichheit alleine nicht ausreichend ist: "Nehmen wir zwei Schüler. Beide bekommen den gleichen Unterricht, beide kriegen ein iPad und beide nehmen Nachhilfe beim gleichen Lehrer. Das bedeutet zunächst eine Chancengleichheit. Aber kann man von gleichen Chancen sprechen, wenn der eine als Muttersprache Deutsch beherrscht und der andere aufgrund seines Migrationshintergrunds erst einen Wortschatz von 1.000 Wörtern? Deswegen plädiere ich dafür, dass jeder die Zeit bekommt, die er braucht, um sich individuell zu entwickeln. Entscheidend ist, dass man die Lernenden unterstützt auf dem Weg. Nicht alle Jugendlichen haben dieselben Startbedingungen und damit automatisch gleiche Chancen. Chancengleichheit muss darum sehr individuell betrachtet und gefördert werden."

Auf dem linken Foto sitzt ein junger Mann an einem Schreibtisch auf dem rechten Foto sitzt ein Kind vor einem Laptop

Viele Wege führen ans Ziel

Noch nie in der Nachkriegszeit wurde das deutsche Schulsystem vor so drastische Herausforderungen gestellt wie durch Covid-19. So wie in der Arbeitswelt, in der der eine oder andere Mitarbeitende mit den Anforderungen der Digitalisierung und des Homeoffice nicht zurechtkam und sich verloren fühlte, erging es auch dem einen oder anderen Lernenden. Schlechte Noten und Versetzungsprobleme sind vorprogrammiert. Doch bedeuten temporäre schulische Schwierigkeiten, eine holprige Versetzung oder der notwendige Wechsel in eine andere Schulform für jeden gleich das Ende aller Karrierehoffnungen? "Nein", versichert Dr. Christian Büttner. "Im bayerischen Schulsystem heißt es: 'Keinen Abschluss ohne Anschluss'. Das bedeutet, dass es immer die Möglichkeit gibt weiterzumachen. Egal wo du bist, kannst du deinen Weg gehen, auch wenn er vielleicht ein bisschen länger dauert." In diesem Kontext verweist er auf seine eigene Laufbahn. Dem Realschulabschluss folgte die Ausbildung zum Sozialversicherungsfachangestellten. Er nutzte die Berufliche Oberschule, um das Abitur nachzuholen, und studierte anschließend Wirtschaftspädagogik. Im Anschluss an das Referendariat unterrichtete er an der Wirtschaftsschule Nürnberg. Berufsbegleitend begann er zu promovieren, wechselte parallel in die Stadtverwaltung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Schulbürgermeisters. Wenige Jahre später folgte die Übernahme der Leitung des Instituts für Pädagogik und Schulpsychologie.

"Ich glaube, was das bayerische Schul- und Bildungssystem so komplex und so schwer verständlich macht, sind gerade die Möglichkeiten, die es bietet. Deswegen habe ich vorhin ja auch die Note 2 gegeben", sagt Büttner. Es gut zu wissen, dass sich für die Lernenden in der breitgefächerten Bildungslandschaft immer wieder neue Chancen und Perspektiven eröffnen, falls sie es wollen. So können sie sich individuell, gemäß ihren eigenen Stärken und Schwächen, entsprechend ihrer Neigungen und Interessen und passend zu ihrem jeweiligen Entwicklungs- und Zeitbedarf "fit machen" für ein selbstbestimmtes Leben in einer zunehmend digitalisierten Welt.

Zitate

"Im bayerischen Schulsystem heißt es: 'Keinen Abschluss ohne Anschluss'. Das bedeutet, dass es immer die Möglichkeit gibt weiterzumachen."

Dr. Christian Büttner, Leiter Institut für Pädagogik und Schulpsychologie der Stadt Nürnberg

Das Momentum nutzen

Die Corona-Pandemie hat durch das Homeschooling die Schule in die Mitte der Gesellschaft geholt und sie weiterentwickelt. Sie hat ohne jegliche Vorwarnung alte Routinen aufgebrochen und neue Formate etabliert. Formate, die ohne Schulschließungen nur langsam oder gar nicht zum Einsatz gekommen wären. Sobald wieder "Normalität" in Form von dauerhaftem Regelunterricht einkehrt, wird es eine große Herausforderung sein, die bewährte Vor-Pandemie-Praxis gewinnbringend mit den neuen Ansätzen und Konzepten zu verknüpfen. Es wäre schade und wahrscheinlich sogar sträflich, dieses Momentum verstreichen zu lassen. Denn auch wenn über alle Schulformen und Klassenstufen aktuell Lernrückstände zu verzeichnen sind, hat durch das homeschoolingbedingte Auf-sich-selbstgestellt-Sein und das damit verbundene Sammeln und Verarbeiten völlig neuer Erfahrungen ein Großteil der Schüler und Schülerinnen Kompetenzen und Soft Skills erworben, die nachhaltig sinnstiftend sind. In der Schule, im Alltag und nicht zuletzt im Beruf. Chancen gibt es immer wieder - sie müssen nur genutzt werden wollen. Im Idealfall intrinsisch motiviert, auf organisatorischer und individueller Ebene.

"Public Private Partnership stützt Bildungsaufgaben"

Ein Interview mit Dr. Christian Büttner zu Corona-Folgen finden Sie in der PDF-Version unseres Magazins.

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