2 Personen stehen auf einem Windrad ganz oben und blicken auf die Natur

Interview mit Fred Wagner.

Wie nachhaltig muss eine Versicherung sein?

Diese Frage wird in der Branche weltweit heiß diskutiert. "Kunden wollen nachhaltige Produkte" ist das Credo. Aber wie kann ein Versicherungsprodukt, diese unsichtbare und nicht greifbare Ware, eigentlich nachhaltig sein? Ist es schon umweltbewusst, wenn man für jeden Vertragsabschluss einen Baum pflanzt? Wie ist es um "grüne" Kapitalanlagen bestellt, die beim genaueren Hinschauen vielleicht gar nicht so grün sind?

Der Leipziger Professor Fred Wagner beschäftigt sich seit langem mit diesen Themen. Ulrich Zeidner, Leiter Unternehmenskommunikation, traf sich virtuell mit Fred Wagner, um mit ihm darüber und über die Zukunft nachhaltiger Versicherungsprodukte zu sprechen.

[Zeidner] Wenn Sie als Fachmann die Nachhaltigkeitsbemühungen der Versicherungsbranche insgesamt bewerten würden, wie würde Ihr Urteil ausfallen?

[Wagner] Die Versicherungswirtschaft hat inzwischen sehr große Aufmerksamkeit auf das Thema. Die Wichtigkeit wurde auf breiter Front erkannt. Allerdings steht die Assekuranz noch am Anfang der Erkenntnisse, was alles zum Thema Nachhaltigkeit und zum Nachhaltigkeitsmanagement gehört. Und wie man es wirklich anpackt.

[Zeidner] Die Versicherungswirtschaft ist eine der größten institutionellen Investoren, die NÜRNBERGER hat ja über 3 Mrd. EUR angelegt. Ist es ihre Aufgabe, mit den Kundengeldern den Klimawandel zu stoppen, internationalen Waffenhandel zu beenden, Kinderarbeit abzuschalten, weltweit soziale Gerechtigkeit zu fördern?

[Wagner] Jeder sollte den Einfluss, den er an seiner Stelle hat, geltend machen, um unseren Enkeln eine lebenswerte Welt zu hinterlassen. Da sind die Kapitalanlagen einer der ganz großen Hebel. Wie das konkret auszugestalten ist, ist allerdings schwierig. Denn ein einheitliches Verständnis zu gewinnen, was nachhaltig ist und was nicht, das braucht noch Einigungsprozesse. Das sieht man gerade deutlich bei Themen wie Atomstrom und Waffenhandel. Wir werden Regulierungen kriegen, die möglicherweise gar nicht auf breites Verständnis stoßen. Wenn Gas- und Atomstrom als nachhaltige Energiequellen regulativ akzeptiert werden oder sogar goutiert werden, dann heißt das nicht, dass die üblichen NGOs das auch goutieren. Und dann kommen Versicherer auch schnell in ein Dilemma. Welcher Denkweise sollen wir folgen? Jedenfalls rutschen wir da schnell in ein Reputationsproblem rein. Es ist wichtig für die Branche, alles dafür zu tun, dass sie an der Entwicklung des Verständnisses über Nachhaltigkeit teilnimmt - und dass sie Deutungshoheit gewinnt.

Professor Fred Wagner

Interview mit Professor Fred Wagner

BWL-Professor Fred Wagner ist seit 1997 Direktor des Instituts für Versicherungslehre an der Universität Leipzig sowie in verschiedenen Fachorganisationen wie dem Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) aktiv. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkte gehören die wertorientierte Unternehmenssteuerung, Digitalisierung in der Versicherungswirtschaft, InsurTechs und innovative Geschäftsmodelle sowie das Nachhaltigkeitsmanagement in Versicherungsunternehmen.

[Zeidner] Wir haben jetzt viel über nachhaltige Kapitalanlagen gesprochen. Was ist denn mit den anderen Kriterien, das S + G (Social und Governance)?

[Wagner] Nachhaltigkeit ist eindeutig das Zusammenspiel von E + S + G. Aber das Thema wird heute sehr vordergründig gespielt im Thema Umwelt und bei den Kapitalanlagen. Da ist der Zug schon abgefahren - mit steigender Geschwindigkeit. Das ist bei S + G meines Erachtens noch nicht der Fall. Bei allem, was außerhalb der Kapitalanlagen stattfindet, setzt sich der Zug eher langsam in Bewegung, aber der wird Dynamik kriegen. Das bleibt nicht stehen. Themen sind genügend da, zum Beispiel Diversität. Mit der Diversität zwischen Geschlechtern sind wir noch lange nicht fertig, da ist noch viel zu tun. Auch was die Situation weiterer Diversitätsgruppen, wie ethnischen Gruppen, angeht. Die Governance folgt am Ende. Sie ist eine regelgerechte Unternehmensführung. Die folgt ja den Themen, die wir auf der E- und auf der S-Seite haben. Und im Übrigen: Gute Unternehmensführung hat ja nicht nur mit den erst modern aufgekommenen Themen zu tun, sondern auch mit Redlichkeit bei Steuerungssystemen - also die alten Themen, die ja auch für die Governance benötigt wurden.

[Zeidner] In der NÜRNBERGER haben wir das unter dem Begriff "ehrbarer Kaufmann" zusammengefasst.

[Wagner] Ja. Einverstanden. Kann man sicher gut machen.

[Zeidner] Gibt es eigentlich so etwas wie ein nachhaltiges Versicherungsprodukt?

[Wagner] Also erstmal bin ich fest davon überzeugt, dass das gesamte Geschäftsmodell der Versicherungswirtschaft Nachhaltigkeit produziert. Warum? Weil es Resilienz schafft. All die privaten und gewerblichen industriellen Versicherungsnehmer könnten ihr Leben so risikokontrolliert oder risikobeherrscht ja gar nicht führen, wenn es die Versicherungswirtschaft nicht geben würde. Also die Resilienz, die Widerstandsfähigkeit gegenüber unerwünschten Entwicklungen, wird ja gerade durch die Versicherungswirtschaft im Kern geschaffen und das ist natürlich nachhaltig. Natürlich sind auch die privaten Lebensversicherungs- und Krankenversicherungs- und Pflegesysteme nachhaltig. Weil sie auch ein gutes Stück Resilienz gegen die demographischen Entwicklungen schaffen, die wir haben. Das ist auch bei jedem sonstigen Versicherungsprodukt der Fall, weil die Risikobeherrschung im Versicherungsunternehmen immer auf einem Risikoausgleich im Kollektiv basiert. Ja, und dass sie im Grunde durch die Gemeinschaft der Versicherungsnehmer getragen wird zuzüglich des Eigenkapitals, das die Versicherer für einen nachhaltigen Risikoschutz stellen.

[Zeidner] Auch das Thema Schadenregulierung wird immer wieder mit Nachhaltigkeit in Verbindung gebracht.

[Wagner] Ich nehme mal als Beispiel das Sturmtief "Bernd". Bislang war das Geschäftsmodell der Versicherer darauf gegründet, dass sie Prämien einnehmen und mit den Prämien Schäden finanzieren, wenn sie entstanden sind - und fertig. Das wird in Zukunft nicht mehr ausreichen. In Zukunft wird man sich fragen müssen: Ja, wird das Haus denn überhaupt wiederaufgebaut? Wird es an dieser Stelle wiederaufgebaut, wo es war? Mit welchen Materialien wird das Haus wiederaufgebaut? Sind das nachhaltige Materialien? Wo kommen die her? Ist das auch aus der Region eher, als von fern, um Transport zu ersparen? Und zudem ist die Branche dadurch geprägt, dass sie immer "neu für alt" ersetzt hat. Auch das wird zu hinterfragen sein. Ist es nicht auch mit mehr Reparaturen getan? Reparaturen sparen Ressourcen. Und noch einen Schritt weiter und dann wird es aber sehr substantiell: Müssen wir nicht die gesamte Wertschöpfungskette des Versicherungsgeschäfts noch ein Stück nach vorne schieben und Schadenverhütung mitadressieren?

Die Versicherungswirtschaft hat wunderbare Voraussetzungen dafür, im Zuge auch der Digitalisierung, die vieles messbar und auch besser prognostizierbar macht. Wir wussten drei Tage vorher, dass es den Sturm geben würde. Es ist eigentlich eine öffentliche Aufgabe. Aber warum sind die Versicherer nicht in der Lage, ihre Versicherten mit einer SMS oder mit einer Mail vorzeitig zu warnen, bevor es passiert ist? Wenn wir allerdings immer mehr Schadenverhütung erreichen, dann sägen wir natürlich an einem Ast, auf dem wir selbst sitzen. Dann wird es auch nötig sein, dieses Geschäftsmodell "Schadenverhütung" zu monetarisieren. Darüber ist nachzudenken. Ich glaube, da gibt es noch viele Potenziale. Es gibt viele Potenziale auf der Produkt- und Geschäftsmodell-Seite, auch auf der Passiv-Seite der Bilanz, also der Versicherungstechnik, Nachhaltigkeit zu organisieren. Vieles geschieht und einiges ist noch offen.

[Zeidner] Nach allem, was Sie hier erläutert haben: Warum gilt die Versicherungsbranche in der Öffentlichkeit immer noch nicht als Musterkind der Nachhaltigkeit?

[Wagner] Ich glaube, dass eine der größten Baustellen der Versicherungswirtschaft die Kommunikation ist. Ich glaube, dass da wirklich massive Defizite bestehen. Die Branche schafft es ja noch nicht einmal, ihr Geschäftsmodell überhaupt zu erklären. Bei vielen Menschen herrscht immer noch der Gedanke vor "Jetzt habe ich soundso viele Jahre immer Prämien einbezahlt und noch nie was bekommen". Schon da fehlt es ja am Verständnis dafür, dass man nachhaltig Versicherungsschutz bekommen hat über die ganze Zeit. Die Branche ist intransparent. Das Dilemma, in der die Branche steckt, wird auch beim Thema Schadenprüfung sichtbar. Sie muss berechtigte Ansprüche erkennen und hoffentlich selbstverständlich bezahlen und unberechtigte Ansprüche auf das berechtigte Maß zurückzuführen - und steht dann schnell in der Defensive. Sie ist nicht wirklich in der Lage, den Risikoausgleich im Kollektiv zu erklären. Stattdessen versucht sie sich als Solidargemeinschaft darzustellen, was sie nicht ist. Die private Versicherungswirtschaft ist keine Solidargemeinschaft. Solidargemeinschaft wäre reich für arm, schnell für langsam, stark für schwach und gesund für krank. So funktioniert das aber nicht. Jeder einzelne Kunde sucht die für ihn beste Preis-Leistungs-Relation. Und jeder Versicherer sucht für sich die besten Preis-Leistungs-Relationen. Und das wird organisiert über den Risikoausgleich im Kollektiv. Das ist das Geschäftsmodell. Den Ausgleich des Zufalls mit fairen Preisen. Solidarität ist also kein Geschäftsmodell der Versicherer. Wenn es gelänge dies verständlich zu kommunizieren, dann würde es auch gelingen, der Welt, dem Kunden, der Öffentlichkeit, der Politik klar zu machen, dass Versicherer sehr ernsthaft auf den Weg gehen, Nachhaltigkeit zu fördern. Ich glaube nicht, dass auf Dauer Nachhaltigkeit im Versicherungsgeschäft ein Wettbewerbsfaktor sein wird, durch den man sich abhebt. Ich glaube, dass das ein Hygienefaktor wird. Wir müssen alle darauf achten, dass unser Geschäftsmodell nachhaltig ist. Dafür müssen wir Strategien haben, die müssen wir kommunizieren, die müssen wir glaubwürdig machen. Und dann danach leben.

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